Was passiert in Syrien?
Was gerade in Syrien passiert, wird den Nahen Osten nachhaltig verändern. Das ist ein Versuch, die Komplexität der Geschehnisse anzuerkennen und einzuordnen.
Zweifellos war Syriens Präsident Assad ein brutaler Diktator, der Hunderttausende seiner eigenen Bürger tötete und unterdrückte. Der Welt wird vielleicht erst jetzt durch die Befreiung der Menschen aus seinen berüchtigten Gefängnissen richtig vor Augen geführt, wie maßlos sein Sadismus gegenüber seiner eigenen Bevölkerung war. (Übrigens nannte das im Westen niemand Völkermord oder protestierte auf den Straßen.) Wir erleben in diesen Tagen, wie Menschen in und aus Syrien ihre grenzenlose Freude zum Ausdruck bringen, dass ihr Schlächter und Unterdrücker gefallen ist und tatsächlich will man für die Syrer und Syrerinnen nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass dieser historische Moment ihrem Land endlich Freiheit und Frieden bringen könnte.
Die von der Türkei unterstützten sunnitischen Jihadisten, die hier ist als “syrische Opposition” bezeichnet und somit maßlos verharmlost werden, stürzen nun das Regime von Assad. Sind sie besser? Nein.
Erdogan und seine sunnitischen Stellvertreter in Syrien töteten Tausende ethnische Minderheiten. Erdogan ist zudem zusammen mit Katar “Hauptförderer” des globalen Muslimbruderschaft-Netzwerks.
Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt die Muslimbruderschaft als „älteste existierende islamistische Organisation. (….) In ihrem Islamverständnis ist die Religion den von Menschen gemachten Gesetzen übergeordnet; eine Trennung von Staat und Religion lehnt die Organisation kategorisch ab.” Die syrischen Jihadisten sind direkt mit der Muslimbruderschaft verbunden. (Zur Einordnung: Die Hamas ist der “palästinensische Zweig” der MB, ihr regionaler Ableger)
Was bedeutet das für Israel? Israel wäre froh, das Assad-Regime und den iranischen Einfluss an seiner Grenze loszuwerden. Aber Israel will nicht, dass die Muslimbruderschaft und die Türkei sie ersetzen. Sie sind genauso gefährlich.
Einerseits war Assad ein enger Verbündeter des Iran und der Hisbollah. Sein Regime stellte dem Regime im Iran eine Brücke zum Libanon, über die Waffen a die Hisbollah geliefert werden konnten. Verschiedenen Berichten zufolge entwickelte Syrien auf seinem Territorium auch Waffen für die vom Iran unterstützte Terrorgruppe.
Der Sturz des Regimes durch sunnitische Jihadisten (die Feinde Irans und der Hisbollah) bedeutet wahrscheinlich, dass das Regime im Iran syrisches Territorium nicht mehr nutzen kann, um die Hisbollah zu bewaffnen, was für Israel von großer Bedeutung wäre.
Andererseits: Die Jihadisten werden von der Hayat Tahrir a-Sham angeführt, die ein Ableger von Al-Qaida ist, die, gelinde gesagt, Israel und der freiheitlichen Welt gegenüber nicht freundlich eingestellt ist...
Als Vorsichtsmaßnahme hat Israel außerdem seine Militärpräsenz an der Grenze zu Syrien verstärkt und zerstört dort mit gezielten Luftangriffen Waffenlanger und militärische Infrastruktur, damit diese nicht in die falschen Hände gerät, was ein enormes Sicherheitsrisiko für Israel bedeuten würde.
Das alles stellt für das Land eine weitere gefährliche militärische Zone auf. Einige der israelischen Soldaten und Soldatinnen, die von Einsätzen im Libanon vom Kampf gegen die Terroristen der Hisbollah zurückkehren, sehen sich jetzt mit einer weiteren Front konfrontiert. Der Norden des Landes kann also kaum aufatmen. Im Gegenteil.
Wer derzeit am meisten unter dem Geschehenen in Syrien leidet, sind Kurden und Kurdinnen, Yezidinnen und andere Minderheiten. Die SDF (Syrian Democratic Forces), zu deren Militärbündnis unter anderem die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) gehören, kämpfen gegen beide terroristische/jihadistische Kräfte.
Dass gerade die unterdrückten, Gewalt und Misshandlung ausgesetzten Minderheiten und ihre sie verteidigenden Streitkräfte keine Relevanz in der medialen Berichterstattung erhalten, ist eine Schande und zeigt einmal mehr, dass die Komplexität des Nahen Ostens und das Leid und der unermüdliche Kampf derer, die für eine Veränderung der Region hin zur einer friedlichen und demokratischen Zukunft ohne islamistischen Terror mit ihrem Leben einstehen, in der westlichen Welt nicht wahr- und ernst genug genommen wird. Die Kräfte, die tatsächlich nachhaltigen Frieden und Sicherheit bringen könnten, werden zu oft alleine gelassen.
Sehr wachsam muss die Weltgemeinschaft die Entwicklung der HTS und vor allem das weitere Vorgehen der Türkei beobachten. Die nächsten Wochen und Monate sind entscheidend und uns zeigen, in welche Richtung sich die Geschehnisse entwickeln werden.
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