Die erste Fahrt in den Norden
Ich habe vor ein paar Tagen Alon David kennen gelernt. Er ist Deutscher und Israeli, kam vor 13 Jahren als Lone Soldier nach Israel und blieb nach seiner Zeit in der Armee im Kibbuz Dan, nur wenige Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit und er bot an, mich in den Norden zu bringen. Seit die Hisbollah im Oktober begonnen hat, das Gebiet mit Raketen und Drohnen anzugreifen, ist diese Region in Israel unbewohnbar geworden. Tausende Hektar Natur- und Landfläche stehen in Flammen und fast 100.000 Israelis wurden durch den Beschuss innerhalb ihres eigenen Landes zu Flüchtlingen.
Dorthin zu fahren ist lebensgefährlich. Das weiß ich, als ich zu Alon ins Auto steige. Aber die Wahrheit ist auch, dass kaum jemand aus dem Norden des Landes berichtet außerhalb Israels. Dieses Schweigen ist unerträglich aber vor allem ist es brandgefährlich. Denn noch haben wir die Chance, zu zeigen, was hier passiert. Wenn die Bodenoffensive im Libanon unausweichlich wird, ist es zu spät und die Welt wird wieder einmal - wie sie es nach dem 7. Oktober schmerzlich bewiesen hat - Israel für einen Krieg verantworten, den es nicht begonnen hat.
Die Fahrt von Tel Aviv bis an die Grenze dauert um die zwei Stunden. Wir fahren am Westjordanland vorbei, eine gefährliche Strecke, da wir mitten auf offener Straße sind und Terroranschläge immer häufiger werden.
Je näher wir der Grenze kommen und ab dem Punkt, an dem ich beginne, Kiryat Shmona auf den Verkehrsschildern zu sehen, wird es stiller im Auto. Wir nähern uns dem Gebiet, das fast vollständig evakuiert ist. Autos gibt es immer weniger, bis sie irgendwann ganz verschwinden. Ich sehe keine Passanten mehr.
Dann sind wir mitten drin. Wir rasen über die leeren Straßen, denn wenn man hier zu langsam fährt, ist man für die Hisbollah ein einfacheres Ziel zum Abschuss. Wenn hier das Benzin leer geht, kann das dein Todesurteil sein.
Durch die Fensterscheibe des Autos weist Alon mit der Hand nach vorne - Das ist der Libanon. Heute ist die Sicht nicht klar, es gibt viele Wolken - gut für uns. Wir fahren weiter, der Libanon kommt uns scheinbar immer mehr entgegen. Am Straßenrand sehe ich auf diesem Abschnitt kaum Schutzbunker, es gibt sie, aber nicht regelmäßig. Sollte jetzt etwas einschlagen, legt man sich auf den Boden mit den Händen über den Kopf - und betet. Mehr bleibt einem in diesem Gebiet nicht übrig.
Alon will mich zu seinem Haus im Kibbuz Dan bringen, vorher werden wir einen Halt in einem anderen Kibbuz machen, damit ich Aufnahmen machen kann. Um 11:57 fahren wir an einem Gebäude vorbei, das mir sofort ins Auge sticht aufgrund der ungewöhnlichen Architektur, eine Art große, weiße Kuppel. Ich frage Alon, was das ist. Die Turnhalle der Schule hier im Ort, sagt er. 100 Meter weiter halten wir an. Wir treffen einen Freund von Alon, der erste Mensch, den ich hier sehe und einer der wenigen, die trotz der Gefahr hier geblieben ist. Wir unterhalten uns kurz, ich frage ihn, wie viele deutschsprachige Journalisten er in den letzten Monaten hier gesehen hat, er sagt: vor einer Woche war jemand hier und jetzt du. Sonst war niemand da. Kein einziger Journalist. Wir wurden vergessen. Berichtet über uns. Zeigt, was hier passiert.
Mir bleibt dieser Satz noch lange in Erinnerung.
Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall über uns. Unser Glück ist, dass wir aufgrund irgendeiner göttlichen Fügung direkt neben einem Schutzraum stehen. Jetzt beginnt die schrille, dich bis ins Mark erschütternde Sirene. Ich frage die beiden, wieso wir im Voraus keinen Alarm gehört haben. Beide lachen kalt. Hier im Norden hast du keine 15 Sekunden, keine 10 Sekunden und keine 2 Sekunden. (Im Vergleich: in Tel Aviv hat man über eine Minute Zeit, bei Alarm in Sicherheit zu gehen). Hier hört man die Sirene erst nach dem Einschlag, weil die Grenze zum Libanon so nah ist. Wir hören direkt über unseren Köpfen mehrere aufeinanderfolgende extrem laute Explosionen. Mir kommt es vor, als ob die Betonwände erzittern.
Nach einigen Minuten dürfen wir nach draußen, Alon wirft mir die Schutzweste zu und sagt, komm, schnell, wir sehen nach, wo es eingeschlagen ist. Er scheint furchtlos zu sein und bleibt selbst in diesen Momenten ruhig, auf mich macht er den Eindruck eines sehr mutigen und starken Menschen - er musste es werden, denn ohne diese Eigenschaften überlebst du im Norden kaum.
Wir rasen unter freien Himmel, wenn jetzt etwas über unsere Köpfe fliegt und ein Trümmerteil auf das Auto fällt, sind wir höchstwahrscheinlich tot. Aber ich bin hierher gekommen, um genau darüber zu berichten, damit ihr seht, das es wirklich passiert. Jetzt.
Der Einschlag hat die Turnhalle der Schule getroffen. Später in der Warn-App sehe ich, dass der Alarm um 12:09 Uhr gemeldet wurde, nur 10 Minuten nachdem ich Alon gefragt habe, was das für ein Gebäude ist. Ich frage mich in diesem Moment, was gewesen wäre, wenn ich meinen Wecker heute morgen nicht auf 7 Uhr, sondern auf 7:10 Uhr gestellt hätte. Was, wenn wir bei der Tankstelle, wo wir angehalten hatten, doch noch einen zweiten Kaffee getrunken hätten. Als Alon mich fragte, ob ich noch etwas trinken möchte, bevor wir weiter fahren - war mir da bewusst, dass diese triviale Entscheidung vielleicht dazu geführt hätte, dass ich mich um 12:09 Uhr auf der Straße vor der Turnhalle befunden hätte, anstatt neben einem Schutzraum zu stehen, der unser Leben gerettet hat? Was sind 10 Minuten für uns in Deutschland? Diese Minuten können hier über dein Überleben entscheiden.
Ich will euch erinnern: der Ort, an dem wir uns befinden, ist drei Autostunden vom Gazastreifen entfernt. Israel hat hier keine einzige Rakete auf sein Nachbarland abgeworfen, bevor die Hisbollah am 8. Oktober begann, wahllos zivile Einrichtungen zu beschießen. Hier lebten Menschen, Familien mit Kindern. Dieser Kibbuz befindet sich auf israelischem Gebiet, welches schon 1948 zu Israel gehörte. Es gibt keine Bedrohung für den Libanon und keine rationale Begründung - das ist schierer Terror.
Später an diesem Nachmittag wird Alon mir getroffene Häuser in der Geisterstadt Kiryat Shmona zeigen und den verlassenen Ort HaGoschrim. Der Geruch von Rauch und Feuer liegt immer in der Luft. Überall Staub und Asche. Links und rechts hört man ständig Artilleriegeschosse, immer wieder sind Sirenen zu hören.
Diese Erfahrung bricht mir das Herz, denn erst jetzt habe ich verstanden, was die Menschen im Norden jeden Tag durchmachen müssen. Wann wird die Welt endlich aufwachen? Wie kann das alles verstanden, erklärt und gerechtfertigt werden?
Diese erste Reise in den Norden während des Krieges wird ein Einschnitt in meinem Leben bedeuten - dieser Tag markiert den Beginn unserer gemeinsamen Arbeit in Israel und der Norden wird zum Hauptfokus meiner Berichte werden. Das weiß ich heute noch nicht. Aber ich fahre zurück nach Tel Aviv als anderer Mensch und setze mir ein Ziel: Die Menschen in Deutschland müssen erfahren, was hier passiert.
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